Heilige

Königstochter trifft Papst

Ob sich der Heilige Sylvester und die Heilige Ursula vertragen würden? Der Autor und Heiligen-Forscher Andreas Rohde stellt einige interessante Hypothesen auf.

An der U-Bahn-Haltestelle Münchener Freiheit ist einiges los: Nachtschwärmer sind auf dem Weg von einer Party zur anderen. Manche zieht es auch in Richtung Englischer Garten, weil vom Monopteros aus das Feuerwerk zum Jahreswechsel besser zu beobachten ist. Mitten im Trubel ist ein freundlich blickender älterer Herr unterwegs: Papst Sylvester I., der inkognito am Jahresschlussgottesdienst in „seiner“ Kirche teilgenommen hat. Man merkt, dass er sich in Jeans und Lederjacke nicht so ganz wohl fühlt. Er ist eher an lange, wallende Gewänder gewöhnt. Zielstrebig überquert Sylvester die Leopoldstraße. Er will zum Kaiserplatz, um sich die Kirche einmal anzusehen, die seit kurzer Zeit mit seiner eigenen zusammengelegt wurde. Dort hat er sich zum Sylvesterkonzert mit der Königstochter Ursula, der Patronin der „anderen“ Kirche, verabredet.

„Kaiserplatz“. Die Adresse erinnert ihn an den Kaiser, mit dem er zu tun hatte: Konstantin der Große. Sylvester schmunzelt. Das waren schwierige Zeiten, als die Christen in Rom noch verfolgt wurden. Und welche Erleichterung, als da plötzlich ein Kaiser auftauchte, der den Christen wohlgesonnen war und sie sogar finanziell unterstützte. Natürlich waren später alle möglichen Legenden entstanden: Er, Sylvester, habe Kaiser Konstantin vom Aussatz geheilt, hieß es zum Beispiel. Ganz so war es natürlich nicht gewesen, aber das war egal. Wichtig war doch nur eines: Er hatte die richtigen Worte gefunden und zur rechten Zeit das Richtige getan, um Konstantin in seinem neu erwachten Interesse am Christentum zu bestärken. Manchmal war weniger eben mehr. Allzu großer Aktionismus konnte genauso schädlich sein wie allzu große Lethargie. Es hatte ja auch nicht geschadet, dass er damals nicht selbst beim Konzil von Nicäa gewesen war. Die Jungs hatten es schließlich auch ohne ihn geschafft, trotz aller Meinungsverschiedenheiten ein gemeinsames Glaubensbekenntnis zu formulieren.

Daran könnte sich mancher Bischof und mancher Kirchenfunktionär heute ein Beispiel nehmen, denkt Sylvester zufrieden. Man muss nicht überall selbst die Finger drin haben …

Quietschende Bremsen und wildes Gehupe reißen ihn aus seinen Gedanken. „Hast wohl keine Augen im Kopf, Alter! Prost Neujahr!“, brüllt ihn ein junger Kerl aus einem Auto heraus an.

Sylvester reißt sich zusammen. Jetzt hat er doch tatsächlich so sehr seinen Erinnerungen nachgehangen, dass er an der Kreuzung Herzogstraße-Wilhelmstraße fast über den Haufen gefahren worden wäre! An diesen modernen Verkehr wird er sich nie gewöhnen, auch wenn er öfter den Heiligenhimmel verlässt und verkleidet auf der Erde herumstreift. Genau wie seine neue Patronats-Kollegin Ursula. Da vorne ist sie übrigens: Wo sie die Klamotten wieder herhat? Dezente Eleganz nennt man das wohl. Ursula kann die Königstochter eben doch nicht ganz verleugnen. Und natürlich hat sie schon wieder ein paar Leute um sich …

„Da bist du ja endlich! Los, komm, das Konzert geht gleich los. Die hier wollen auch mit …“ Dabei zeigt sie auf ihre Begleiter.

Wie Ursula das nur immer macht?, denkt Sylvester. Ihre neuen Bekannten sehen nicht so aus, als ob sie von Anfang an vorgehabt hätten, in ein Kirchenkonzert zu gehen. Die sind eher partymäßig gestylt. Na ja, zur Party können sie später immer noch. Die Nacht – seine Nacht, die Sylvesternacht – ist noch lang. Das konnte Ursula schon immer: Menschen überzeugen. Nicht laut und lärmend, sondern ganz bescheiden und zurückhaltend bringt sie Menschen dazu, ihre eingespurte Route zu verlassen und sich auf neue Wege zu wagen – zum Beispiel ins Sylvesterkonzert. Ursula soll damals auf ihrer Pilgerfahrt nach Rom ja auch zehn adlige Jungfrauen und ein Gefolge von elftausend Mägden dabei gehabt haben. Die Menschen erzählen sich, sie habe auch Könige und Fürsten überzeugt, ihr zu folgen. Und in Rom soll dann sogar der Papst Cyriakus auf sein Amt verzichtet haben, um Ursula auf ihrem Heimweg zu begleiten. Es heißt, die Kardinäle hätten ihn daraufhin aus der Liste der Päpste gestrichen und Cyriakus sei zusammen mit Ursula und ihrem gesamtem Gefolge bei Köln von den Hunnen getötet worden.

Sylvester lacht in sich hinein. So ist das eben mit Legenden. Da mag mancher, der alles historisch genau bewiesen haben will, die Nase rümpfen, weil sie ihm unglaubhaft wie Märchen vorkommen. Und das stimmt ja auch: Wirklich geschehen ist das, was über Ursula erzählt wird, wohl nicht. Und doch fangen diese Geschichten ihren Charakter und ihre Botschaft so gut ein, dass sie doch irgendwie wahr sind …

Ursula und Sylvester: Das sind zwei Menschen, die von ihrem Glauben an Jesus Christus so erfüllt sind, dass alle, die ihnen begegnen, spüren: Hier lebt jemand das, was er bzw. was sie sagt. Sowohl Ursula als auch Sylvester strahlen eine solche Überzeugung aus, dass frühere Feinde der Christen sich auf den „neuen Glauben“ einzulassen beginnen. Die Kraft seines Glaubens befähigt Sylvester, Kaiser Konstantin vom Aussatz zu heilen. Und Ursula wagt sich um ihres Glaubens willen in die Fremde. Im Glauben an die Auferstehung fürchtet sie auch den Tod nicht. Sie bewährt sich als Anführerin einer unübersehbar großen Gruppe. Ihre Führungsstärke, ihre Umsicht und ihr Einfühlungsvermögen hält Angehörige unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichsten Standes zusammen; in einer männergeprägten Zeit folgen selbst Fürsten, Bischöfe und sogar ein Papst ihrer Leitung. Diese in der Legende geschilderten Fähigkeiten dürften es auch sein, die Ursula – unter manch anderen – das Patronat für die Lehrerinnen und Erzieherinnen eingebracht haben.

So, wie sie uns in der Legende gezeigt werden, bringen Ursula und Sylvester Menschen dazu, Altgewohntes im Stich zu lassen und Neues zu wagen. Vielleicht ist das ein Fingerzeig auch für uns heute: Neues zu wagen muss nicht heißen, alles Bewährte über Bord zu werfen. Aber wenn wir neue Ziele in den Blick nehmen, kann uns das näher zu Christus bringen – in unserem persönlichen Alltag genauso wie im Leben unserer Gemeinden, die nun zu einem Pfarrverband zusammenwachsen.

 

Für alle, die sich gründlicher über Ursula, Sylvester und andere Heilige, über historisch Verbürgtes, Legenden und Brauchtum informieren wollen:

Andreas Rode: Das Jahresbuch der Heiligen.

Große Gestalten für jeden Tag. Leben und Legenden. Zuständigkeiten, Attribute und Erkennungsmerkmale. Mit einer Einführung von Abt Odilo Lechner. Bildauswahl von Günter Lange. 1.040 Seiten, mit über 80 Farbtafeln. ISBN 978-3-466-36803-7. € 49,95.

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